Lyudmila Sosina: aus einem Gespräch mit Grigori Gordon
Ich kann mich nicht an eine Zeit ohne die Familie Gilels erinnern;
wir waren sehr befreundet. Es war eine bemerkenswerte Familie, wenn
auch heute keine Zeugen mehr dafür leben. Bei den Eltern lebten ihre
Kinder aus den ersten Ehen, nur Milja und Lisa waren ihre gemeinsamen
Kinder. Und in Odessa sagte man: Wie begabt sie doch sind, warum sind
es denn so wenige - nur zwei, es hätten doch wenigstens fünf sein können…
Wenn ich eine Schwester gehabt hätte, so bin ich nicht sicher, ob ich
zu ihr eine engere Beziehung hätte haben können als zu Lisa.
In Erinnerung
an unsere Kindheit sagte Lisa: Lyusja, ihr seid arm gewesen, aber wir
waren bettelarm. Der Vater brachte von der Arbeit ein in Zeitung eingewickeltes
Stück Hering mit, die Mutter kochte Kartoffeln und wir alle aßen und
leckten der Reihe nach diesen Hering ab.
Milja und Lisas Eltern gaben
ihnen je 10 Kopeken für die Straßenbahn – die Musikschule war ziemlich
weit entfernt – und Milja schlug Lisa vor:
„Lass uns zu Fuß gehen
und wir kaufen – Sonnenblumenkerne.“
Die Mutter war herrisch und
streng, der Vater jedoch: sehr nachgiebig, er verzieh alles.
Lisa
erzählt: Wenn die Mutter im Winter auf den Markt ging, dann öffneten
beide ganz schnell das kleine Klappfensterchen und streckten die Köpfe
auf die Straße hinaus um sich zu erkälten – damit sie nicht in die Schule
mussten.
Einmal schrieb Milja mir einen Zettel: „Lyusja, du bist
ein nettes Mädchen, willst du meine Freundin sein“. Ich antwortete ihm:
„Mit Rothaarigen schließe ich keine Freundschaft“. Er hat mich später
das ganze Leben lang daran erinnert.
Gilels’ Vater, Grigorij Grigorjewitsch, besaß eine Taschenuhr und
hatte sich immer eine passende Kette dazu gewünscht. Später, in Moskau
– sie lebten schon auf dem jetzigen Friedens-Prospekt –, brachte ihm
Milja von einer Reise ein Platinkettchen mit – es war unglaublich fein,
als ob es einem durch die Finger rieselte.
Milja sagte in meinem
Beisein:
„Papa, du hast doch hiervon geträumt, ich möchte Dir dies
schenken.“
Grigorij Grigorjewitsch – er sah Platin wohl das erste
Mal, – sagte ganz ruhig:
„Danke…“
Und ging hinaus.
Milja sagte
zu mir:
„Schien es dir nicht auch so, als ob das auf ihn keinerlei
Eindruck gemacht hätte?“
„Es schien so…“
„Geh, schau, was er dort
macht.“
Ich gehe in die Küche. Er schaut das Kettchen nicht an, es
beeindruckt ihn nicht im Geringsten. Ich frage ihn:
„Grigorij Grigorjewitsch,
nun, wie gefällt Ihnen das Kettchen?“
„Nun ja… Verstehst du, ich
wollte eine Kette haben… Aber das da wiegt doch nichts…“
Ihm war
es egal, selbst wenn sie aus rostfreiem Stahl gewesen wäre, nur eine
schwere, massive Kette hätte es sein sollen.
Einmal standen wir mit ein paar Leuten im Konservatorium im Überwachungsraum
und sprachen über irgendetwas. Ich wandte mich an Gilels:
„Emil Grigorjewitsch!“
Er schaut mich aufmerksam an und sagt leise:
„Komm, gehen wir ein
wenig zur Seite… Hast du den Verstand verloren? Seit wann bin ich für
Dich Emil Grigorjewitsch?“
„Aber da sind doch ringsum Leute…“
„Also, merke Dir das bis an Dein Lebensende: Du bist für mich Lyusja
und ich für Dich Milja. Und wenn Du mich noch einmal irgendwo mit Emil
Grigorjewitsch anredest, dann werde ich einfach nicht darauf reagieren.“
So war Gilels. Ich kenne überhaupt keinen Menschen, der ihm ähnlich
wäre.
Da war noch diese Geschichte: Ich habe damals viel gespielt, ich
war gerade aus Deutschland zurückgekehrt, wo ich ein Gastspiel gegeben
hatte. Da ruft mich der Leiter der Kaderabteilung der Philharmonie zu
sich:
„Ist es nicht Zeit für Sie, in Pension zu gehen? Nein, sie
werden schon nicht ganz ohne Arbeit sein – vielleicht als Platzanweiserin,
Garderobenfrau…“
Ich war damals in einem entsetzlichen Zustand, und
hätte mich sogar vor ein Auto wer-fen können; wem konnte ich mich anvertrauen?
Ich ging zu dem Cellisten Jascha Slobod-kin – wir sind oft zusammen
aufgetreten – und habe ihm alles erzählt. Er rief sofort Lenja Kogan
an, der meinte, dass man dem Flegel einen Denkzettel verpassen müsse
– einen Brief an den Minister schreiben und ihm diesen zu Beginn des
Arbeitstages auf den Tisch legen (es gab jemanden, der dort arbeitete
und der das erledigen konnte).
„Ich werde unterschreiben,“ sagte
Lenja, „Khrennikow übernehme ich“ (die beiden ver-standen sich gut).
Und Slobodkin unterschrieb, aber man brauchte noch die Unterschrift
eines bedeutenden Pianisten, von Gilels oder Richter.
An Gilels konnte
ich mich wenden. Ich rief an und Ljala ging ans Telefon. Ich habe ihr
alles erklärt. Ich bat sie (wir waren per Sie):
„Erzählen Sie alles
Milja. Wenn er nicht unterschreiben möchte, nehme ich es ihm nicht übel,
aber ich möchte das nicht von ihm selbst hören. Er soll es Ihnen sagen
und Sie sa-gen es dann mir.“
„Gut.“
Ich sollte zurückrufen. Milja
sagt:
„Wann brauchst du diesen Brief?“
„Morgen.“
„Kannst Du
morgen ganz früh zu uns kommen?“
„Natürlich.“
Ich ging in aller
Frühe hin. Milja ist offensichtlich gerade aus dem Bett aufgestanden;
er kam heraus und hielt mir den Brief entgegen – ich werde mich daran
mein ganzes Leben lang erinnern:
„Und Du schämst dich nicht? Wie
konntest Du auch nur eine Minute annehmen, dass ich nicht unterschreiben
würde?“
So einer war Gilels, er war ein erstaunlicher Mensch. Er
ertrug keine Schmeichelei und hat selbst auch niemandem geschmeichelt.
Es war während des ersten Tschaikowsky-Wettbewerbs, gerade vor dem
Finale, vor der dritten Runde. Gilels war Vorsitzender der Jury. Der
Kulturminister Michailow rief ihn zu sich:
„Emil Grigorjewitsch,
wie es scheint, sind Sie Parteimitglied? Sie verstehen – das ist der
erste Tschaikowsky-Wettbewerb und der erste Preis sollte an uns gehen,
sollte ein sowje-tischer sein.“
„Sie kommen zu spät, Nikolaj Alexandrowitsch“
sagte Gilels zu ihm, „der erste Preis ist schon Van Cliburn zugesprochen
worden, da kann ich nichts machen.“
Damals brauchte man schon viel
Mut, um so zu antworten.
Und noch etwas zur Obrigkeit, die ich nie mochte.
Da war der Vertreter
des Ministers Danilow (er kannte meinen Mann). Wir gingen einmal nach
einem Konzert Richters – er hat wunderbar gespielt! – die Treppe des
großen Saals hinab, und er fragte mich:
„Nun, wie gefällt Ihnen unser
Champion?“
Wie bei einem Boxkampf! Und dabei ging es ja nicht um
Gilels, sondern natürlich um Richter. Ich antwortete ihm:
„Jedem
der seine… Es wäre gut, wenn es von diesen Champions mehr gäbe: nicht
nur zwei – denn ich sehe nur zwei – sondern zweiundzwanzig…“
Ich
muss ganz ehrlich sagen: mir stand Gilels immer näher. Ich bin ein Gilels-Fan.
Ich habe mit ihm viele Konzerte zu Hause auf zwei Flügeln gespielt.
Darauf war ich wahnsinnig stolz. Ich habe ihm oft gesagt: „Milja, du
hast Hände aus reinem Gold“. Ihm schien das zu gefallen. Ich habe ihn
vergöttert, verehrt, wäre bereit gewesen, vor ihm auf die Knie zu fallen…
und ich habe ihn gefürchtet. Er war sehr streng.
Einmal spielten
wir zum ersten Mal das Zweite Konzert von Brahms. Ich las gut vom Blatt
und habe natürlich die Partie des Orchesters ein wenig vereinfacht,
wie man das übli-cherweise macht – damit er leicht erkennen konnte,
an welcher Stelle welche Instrumen-te spielten. Plötzlich hielt mich
Gilels an:
„Lyusja, was spielst Du da?! Sage mir, wer hat dieses
Konzert geschrieben?“
„Brahms…“
„Und nicht Du?... Die Sache ist
die, dass du einfach nur die Hälfte der Noten spielst. Merke Dir für
Dein ganzes Leben – den Text muss man ehren. Du magst doch selbst keine
Stümperei, aber das was Du hier machst – das ist Stümperei.“
Er klappte
die Noten zu und gab sie mir.
„Geh nach Hause. Wenn Du alle Noten
geübt hast, spielen wir wieder.“
Er war zurückhaltend und hochanständig.
Es ist nicht an mir zu
erzählen, was für ein Pianist er war. Heute gibt es nichts ähnliches
mehr, obwohl man sehr schnell spielt – und großartig, – ich verstehe
sehr wohl, was heute gut ist. Aber seine Willenskraft, sein Wohlklang,
das ist das Wichtigste, – sie waren einzigartig. Das braucht man natürlich
gar nicht erst nachzuahmen und das wäre auch unmöglich – aber einen
Zweiten wie ihn gibt es nicht. Wie es auch keinen Sofronitsky oder Richter
mehr gibt.
Milja konnte Flugzeuge nicht ausstehen, und wenn es ihm möglich war,
unternahm er seine Gastspielreisen mit der Bahn oder per Schiff.
Einmal befand er sich er wieder mal auf einem Ozeandampfer auf dem Weg
zu Konzerten in Amerika – der Dampfer war wie eine ganze Stadt, es gab
dort alles… Es war eine un-vorstellbare Menge von Leuten – und bei der
Ankunft musste man am Ausgang eine be-stimmte Ordnung einhalten: zuerst
kamen Mitglieder der Königsfamilie, dann die niede-reren Ränge usw.
Ljalja erzählt:
„Milja und ich wussten, dass wir lange warten mussten,
wir würden als Letzte von Bord gehen. Daher beeilten wir uns nicht,
wir hatten uns irgendwo an den Rand gestellt. Und plötzlich hören wir
über den Lautsprecher – in Englisch, darauf in Russisch: „Am Kai be-findet
sich der berühmte Impressario Sol Hurok. Er wartet auf den großen sowjetischen
Pianisten Emil Gilels. Emil Gilels mit Ehefrau, wir bitten Sie als Erste
zum Ausgang“. Alle traten zur Seite, und wir waren gezwungen zu gehen…“
Eine kleine Kuriosität: Borja Bloch ist ein ausgezeichneter Konzertpianist,
ein Schüler von Bashkirow. Er stammt aus Odessa, jetzt ist er Professor
in Düsseldorf. Er kommt nach Odessa. Er geht und sieht sein Haus – direkt
im Stadtzentrum, einer wundervollen Gegend, nicht weit entfernt vom
Hotel London, der Treppe und dem Richelieu-Denkmal.
„Und am Haus“,
erzählt er, „ist eine Gedenktafel angebracht. Ich denke – das ist doch
nicht etwa meinetwegen! Ich fliege wie auf Flügeln, nähere mich und
lese: ‚In diesem Haus lebte Emil Gilels’“.
Bashkirow erzählte mir, da er weiß wie ich Gilels liebe:
„Lyudmila
Alexandrowna, ich muss Ihnen etwas sagen, das Sie freuen wird. Wissen
Sie, was geschehen ist: Die Aufnahmen von Gilels haben im Westen jetzt
einen so großen Erfolg wie die keines anderen!“
Meiner Meinung nach sollte das Konservatorium von Odessa den Namen Gilels’ tragen – es ist das Konservatorium, in dem ein solcher Gigant ausgebildet wurde.