Oxana Yablonskaya: Gilels
Aus dem Buch „Kleine Hände. Thema mit Variationen“
Gilels – Eine erstaunliche Person, die sich zeitlebens gewandelt hat: von einem glänzenden Virtuosen hat er sich zu einem großem Musiker entwickelt. Ich erinnere mich, dass man über ihn schrieb, wie er in seiner Jugend die Spanische Rhapsodie von Liszt spielte, sich dabei immer tiefer zum Klavier neigte und immer schneller wurde. Das war eine phänomenale Bewegung, die nie anhielt und sich immer weiter steigerte. Und die Zuhörer mussten immer folgen.
Und wie hat er erst in reifem Alter gespielt! Er hat weder seine Virtuosität noch die Individualität verloren. Was für eine tiefe, edle und abwechslungsreiche Farbpalette er hatte! Trotz seiner steilen Karriere glaube ich, dass er von vielen unterschätzt wurde. Jemand hat bei mir mal eine sehr schöne Fotografie von Gilels mitgehen lassen, auf dem sein Gesicht ein wenig uneben erscheint, so typisch für ihn. Anna Gabaj hat mir dann noch mal das gleiche Bild besorgt. Gilels ist ein Mensch, den ich vergöttere.
Wir, die Studenten des Moskauer Konservatoriums, haben unsere Professoren immer verehrt. Es existierte aber auch eine gewisse Distanz zu ihnen. In der Regel handelte es sich um unwahrscheinlich begabte Leute, herausragende Musiker. Jakob Zak hat mal gesagt, dass Gilels „den Pathos der Distanz bewahrt hat“. Er hat sich zwar auf jemanden von den Großen berufen, aber vielleicht waren es auch seine eigene Worte. Das stimmte, Gilels war genau so. Ich kann mich erinnern, wie Gilels zu einer Prüfung an dem Konservatorium in Moskau kam nach dem Wettbewerb in Paris, bei dem er einer der Juroren war. Er kam zu mir und wir haben uns über irgendetwas unterhalten. Eine Sekunde später kam mein Dekan Sokolow angeflogen und fragte: „Worüber hat Gilels mit dir gesprochen?“ Gilels selbst zu fragen, hat er sich nicht getraut. Gilels konnte seine Haltung bewahren, neben ihm hat jeder gewusst, was man Wert war. Man muss sagen, dass Gilels sich selbst erschaffen hat. Aus einem einfachen jüdischen Wunderkind aus Odessa ist ein Mann geworden, der fließend mehrere europäische Sprachen beherrschte, mit wunderbarem Benehmen und eigener Wertschätzung.
Natürlich hat ihn in Moskau der ständige Vergleich mit Swjatoslaw Richter gestört. Ich begreife nicht, warum man sie ihr Leben lang in dieses sinnlose Wettrennen hineingezogen hat. Richter war ein herausragender Pianist, aber Gilels stand ihm im nichts nach. Er hat einfach auf seine Art gespielt, er besaß ein anderes Konzept. Durchaus konnten beide existieren. Und doch war für mich Gilels immer der erste.
Gilels ist für mich ein lebendiger, mir nahestehender Mensch. Der für ihn so typische Einklang von Würde und Einfachheit – ein Musterbeispiel eines gebildeten Menschen. Es ist gewiss eine Tragödie und Ungerechtigkeit, auf dem künstlerischen Höhepunkt aus dem Leben zu scheiden. Er war in einer wunderbaren Form und hat vor dem Tod eine gewisse innere Ruhe gefunden. Wie schnell ist ihm seine Tochter gefolgt, und was für einem Martyrium hat danach seine Witwe erlebt!
Ich erinnere mich an ein Treffen in Zürich. Ich habe mit Maxim Schostakowitsch das Erste Konzert von Rachmaninow gespielt. Und nach dem Konzert öffnet sich plötzlich die Tür der Künstlergarderobe und Gilels tritt herein. Ich war völlig irritiert. Er glaubte mir nicht, dass ich ihn im Saal nicht gesehen hatte, und sagte, ich hätte ihn beim Verbeugen angeschaut. Was für ein Glück, dass er nicht vor dem Konzert zu mir gekommen war! Ich wäre furchtbar aufgeregt gewesen. Damals sagte ich ihm: „Aber jetzt nicht mit mir schimpfen, denn auch wenn ich etwas falsch mache, so ist es ihre Schuld!“
Die Sache war die: seinerzeit hat Gilels mich nicht in seine Solistenklasse aufgenommen. Wie ich schon erwähnte, wollte ich zunächst in der Solistenklasse bei Baschkirow studieren, bekam aber eine Absage. In einem Gespräch fragte mich Mark Milman, Professor für Kammermusik und Schüler von Neuhaus, bei wem ich in der Solistenklasse studieren wollte. Ich sagte, dass ich mein Leben lang Gilels verehrt habe und mich glücklich schätzen würde, in seine Klasse zu kommen.
Milman rief Gilels an und der sagte, dass er sich mich gerne mal anhört. Und da kam ich zu Gilels nach Hause in die Gorkij-Straße. An diesem Haus ist heute eine Tafel angebracht, allerdings irgendwie schief. Dort wurde ich feierlich ins Arbeitszimmer mit roten Ledersesseln geführt. Natürlich befand ich mich in einem Zustand heiliger Erregung. Und da kommt Gilels und seine ersten Worte nach dem „Guten Tag!“ klingen in etwa so: „Oxana, ich weiß, dass sie ein sehr begabter Mensch sind, aber ich sage ihnen sofort, dass ich sie nicht nehmen werde. Sie werden auch ohne meine Hilfe Karriere machen. Aber wenn sie für mich spielen möchten – bitte“.
Es stellte sich heraus, dass Gilels in jenem Jahr seine Entscheidung, das Konservatorium zu verlassen, bereits getroffen hatte – es sollte wohl so sein.. Bis heute tut es mir leid, dass es mir nicht möglich war, Schülerin von Gilels zu werden. Damals hätte ich einen Lehrer gebraucht, dem ich bedingungslos hätte vertrauen können, den ich maßlos geliebt und verehrt hätte.
New York, 2008