Erinnerungen
Joachim Kaiser, Kurt Masur, Rodion Shchedrin und Aldo Ciccolini sind
nur einige der prominenten Persönlichkeiten, die sich hier an Emil Gilels
erinnern. Die Erinnerungen, die seine Zeitgenossen aufgeschrieben haben,
sind auch ein lebendiges Stück Kulturgeschichte, das man mit Vergnügen
lesen kann.
Leonid Gakkel: Zum Tod von Emil G. Gilels
Der Tod von Emil Gilels erfüllt uns mit unsagbarem Schmerz. Zum einen
ging er sehr früh von uns: mit neunundsechzig Jahren. Für einen Musiker
von Gilels‘ Format ist dies das produktivste, das wertvollste Alter,
und Emil Grigorjewitsch hätte noch vieles tun können. Die Mehrzahl der
großen zeitgenössischen Pianisten, zu deren Familie er ohne Zweifel
gehört, lebte viel länger als er: Hofmann, Schnabel, Arthur Rubinstein,
Edwin Fischer; die Achtzigjährigen Horowitz, Arrau sind wohlauf…
Bitter ist es zu wissen, dass wir ihn – als Lebenden – nie mehr hören
werden. Verkörperte er doch das geistige Band zwischen mehreren Generationen
von Hörern in unserer Heimat; genauer gesagt, liebten ihn sowohl die
“Väter” wie die “Kinder”. Und wenn man von den “Vätern” spricht, von
der Generation, zu der Emil Grigorjewitsch selbst gehörte und deren
Schicksal so viele Prüfungen für sie bereit hielt, dann ist es schwierig
sich vorzustellen, wie sehr Gilels als Künstler, als Pianist für sie
wahrhaftig ein “Licht im Fenster” war, ein Gegenstand freudigster Erinnerungen,
lichter, dankbarer Gefühle. Sowohl für die “Väter” wie für die “Kinder”,
für jene, die ihn schon in den 30er Jahren als auch für jene, die ihn
in den 80ern zum ersten Mal hörten, wurde er die Verkörperung einer
Eigenschaft, die wir wahrscheinlich heute mehr als alles andere benötigen:
Verlässlichkeit, in sittlicher sowie in professioneller Hinsicht. Es
scheint fast unglaublich, aber Gilels bewegte sich als Künstler immer
auf höchstem Niveau, er enttäuschte nie die Erwartungen seiner Zuhörer
Ó weder als Künstler, der der Musik treu, ihr gegenüber aufrichtig war,
noch als Meister, der seinen tadellosen künstlerischen Ruf wahrte. Jetzt
haben wir dieses “Bollwerk der Verlässlichkeit” verloren und in diesem
Sinne ist es keineswegs eine Übertreibung zu sagen, dass die Welt des
Klavierspiels verwaist ist.
Und noch etwas. Die Bitterkeit ist so stark, weil wir Emil Grigorjewitsch
zu seinen Lebzeiten zu wenig Begeisterung, Liebe und Verehrung zollten.
Gilels gab sich selbst keine große Mühe, die Zahl seiner Enthusiasten
zu mehren. Er kam ohne Eigenreklame aus. Außerdem war er als Künstler
zu konsequent und zielstrebig, um allen zu gefallen. Und es kam vor,
dass wir uns nicht bedrückt fühlten, wenn wir ihn jahrelang nicht hörten
oder sahen, wir litten nicht darunter, dass Gilels in unserem Leben
fehlte; wir waren zufrieden mit dem, was da war, was für uns erreichbar
war. Aber jetzt – verstehen wir das? Emil Gilels wird nie mehr sein.
Und unsere Worte der Liebe kommen zu spät. Soll man aus diesem Grund
nicht Bitterkeit empfinden, kann die Bitterkeit nicht zu einem Teil
jener erhabenen Trauer werden, die der Tod großer Meister hervorruft?…
1985